Sonntag, 14. April 2019

Archiv(bashing)szene 7

Man sollte immer sehr vorsichtig mit Urteilen über Werke sein, in denen man noch mitten drin steckt. Vor einiger Zeit habe ich mal einem Kollegen ein Buch empfohlen, das ich erst zur Hälfte gelesen hatte und kaum hatte ich die Empfehlung ausgesprochen, hat die Handlung einen schrägen Pfad eingeschlagen, noch dazu konzentrierte sie sich plötzlich hauptsächlich auf Szenen, in denen masturb1ert wurde. Nicht gerade Smalltalkstoff für den Mittagstisch mit den Kollegen.
Deswegen möchte ich zunächst unter Vorbehalt die Aussage treffen, dass die Serie "Homecoming" ziemlich spannend ist. Ich habe bisher nur die ersten drei Folgen gesehen. Diese drei Folgen waren aber sehr gut gemacht. Sehr ansprechendes Szenenbild, sehr effektiver Spannungsaufbau. Und dann gleich in der dritten Folge eine Archivszene!

Die Thrillerserie spielt auf zwei Zeitebenen. In der einen schaut man einer Betreuerin, die 2018 im Zuge eines Programms mit dem Namen "Homecoming" posttraumatisch gestörte Soldaten auf die Wiedereingliederung ins zivile Leben vorbereiten soll, bei der Arbeit zu. Auf der anderen Zeitebene folgt man 2022 einem Beamten des Verteidigungsministeriums, Thomas Carrasco, bei der Aufklärung einer anonymen Beschwerde in Bezug auf das "Homecoming"-Programm. Und er hat es nicht leicht, denn die Erinnerung aller Beteiligten scheint arg beeinträchtigt.
Also muss er an den Ort, an dem man nicht von der Gedächtnisleistung oder Redseligkeit von Menschen abhängt, sondern höchstens von der menschlichen Fähigkeit, zu bewahren: ins Archiv.

Es scheint nicht die Intention der Serienmacher gewesen zu sein, das Archivwesen zu verunglimpfen. Im Gegenteil, das Archiv des Ministeriums ist beeindruckend dargestellt, einschüchternd nahezu. Es erinnert eher an das riesige Lager aus "Indiana Jones", in dem am Ende die Bundeslade verschwindet oder an das Archiv der CIA (wie man es sich eben so vorstellt). Es ist enorm. Seine Gänge scheinen nirgendwo anzufangen und nirgendwo zu enden. Diese räumliche Unendlichkeit ist ein schönes Bild, denn das ist, was ein Archiv auch unter zeitlichem Aspekt ist oder sein sollte: unendlich.



Carrasco wird vom Licht verfolgt, als er durch diese Gänge läuft. Bewegungsmelder steuern die Beleuchtung, so dass sie nur auf den benötigten Abschnitt reduziert ist. Eine sinnvolle Sache in einem Archiv, die aber sehr dazu beiträgt, dass es unheimlich wirkt (nicht nur in der Serie). Der Nutzer allein im Spotlight, um ihn herum dunkle Fluchten, nicht einsehbar. Stille, abgesehen von dem metallischen Ping-Geräusch, das eine aufflackernde Leuchtstoffröhre ab und an von sich gibt. Erleuchtung auch im übertragenen Sinne nur dort wo der Suchende sich vertieft und recherchiert.
An dieser Stelle kommt der Teil, der unter archivischem Aspekt nicht ganz plausibel ist.


Carrasco erhält bei seiner Recherche in der Datenbank eine einzelne Signatur zu dem gesuchten Vorgang. Als er am entsprechenden Regal ankommt, steht er jedoch vor rund 30 Kartons. Dass der Vorgang so umfangreich ist: schön und gut. Dass er nicht feiner erschlossen wurde, die einzelnen Kartons nochmals nummeriert und kontextbezogen indexiert wurden: unwahrscheinlich. Es sei denn natürlich, es ist nicht gewünscht, dass etwas gefunden wird (und es handelt sich ja um das Verteidigungsministerium), also irgendwie doch: gut möglich.
Carrasco verbeißt sich aus Gewissensgründen trotzdem und, Respekt, sichtet all diese Kartons. Immer wieder, halbminütlich, muss er den Arm in die Höhe recken, damit ihn der Bewegungsmelder erfasst und ihm Licht gespendet wird. Unerbittlich und ausdauernd bleibt er dran und ist schließlich erfolgreich, findet die Nadel im Heuhaufen.


 
Der Archivar, der 30 Kartons unter einer Signatur ohne Feinerschließung zusammenfasste, hat entweder einen Scheißjob gemacht oder, falls er dazu angehalten war, zu verschleiern, einen nur halbwegs guten. Er hat jedenfalls nicht mit Carrasco und seiner Magnetbrille gerechnet!
Das ist das Ungewöhnliche dieser Archivszene im Vergleich zu anderen in Filmen und Serien: Der Mann macht das freiwillig, er wurde nicht dazu verdonnert. Er kann nicht anders, er muss es einfach wissen, es herausfinden, was immer ES ist (das weiß ich nach drei Folgen noch nicht). Am Ende ist er schlauer. Und das ist, wofür Archive da sind.
 

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