Montag, 11. April 2022

Henninger-Stübchen vor 86 Jahren

Frankfurt liest ein Buch und ich lese mit. Beziehungsweise ich bin schon durch und fand es toll. Deshalb hier eine kurze Empfehlung. Wer liest noch mit?
(Wenn nicht mein Blog, dann doch wenigstens das Buch.)

Solange es ihr möglich war, beobachtete und erlebte Irmgard Keun den Alltag im nationalsozialistischen Deutschland aus nächster Nähe. Sie begann diesen Roman bereits bevor sie erst 1936 das Land verließ im Kopf zu formulieren, hatte aber nicht riskieren können, ihn aufzuschreiben. „Nach Mitternacht“ erschien 1937 im Exil.

Geschildert werden 48 Stunden durch die Augen einer jungen Frau im Frankfurt des Jahres 1936. Mit genauer Beobachtungsgabe und Witz beschreibt die Erzählerin auf unauffällige, aber wirkungsvolle Art das Spektrum bürgerlichen Lebens im NS-Staat - nicht dokumentarisch, sondern kunstvoll authentisch. Die Erzählweise hat oft etwas Bühnenartiges und der Leser fühlt sich mitten reinversetzt in die Erlebnisse, Gespräche und Widersprüchlichkeiten der unterschiedlichsten Menschen in dieser Zeit. Man wird zum Zeugen und hat nicht selten einen Kloß im Hals.

Etwa wenn es um die Liebe in Zeiten des Nationalsozialismus geht:

„…nun muß man auch noch alle Bestimmungen über die Liebe kennen, das ist bestimmt nicht leicht. Man kann entmannt werden oder ins Gefängnis kommen, ehe man sich’s versieht, das ist nicht angenehm. Es soll ja Liebe geben, und man soll als deutsche Frau auch Kinder kriegen, aber dazu ist doch immer ein Vorgang mit Gefühl nötig. Und bei diesem Vorgang dürfen gesetzlich keine Fehler gemacht werden. Das Sicherste ist vielleicht doch: man liebt überhaupt nicht. Solange das gestattet ist.“


Lesenswert macht den Roman zudem die wunderbar bildhafte Sprache, mit der Keun beeindruckt:

„Noch nicht einmal mein Haar leuchtet. Es hat eine blonde Farbe, die schläft.“

„Ich saß halb auf dem Schoß von einem dicken Mann, sein Gesicht konnte ich nicht richtig erkennen, sein Atem war wie ein fetter stinkender Ball, der mir immerzu ins Gesicht flog.“


Ein Schauer durchfährt einen - besonders derzeit - bei dieser Passage:

„Ein Zufall ist es, daß giftige Gase nicht meinen Leib zerfressen. Der Führer riskiert alles. Durch ein Wort kann er Krieg machen morgen und uns alle tot. Wir alle ruhen in des Führers Hand.“

Freue mich nun auf die Stadtführung zu den Schauplätzen des Romans, die im Zuge des Lesefestes im Mai stattfinden wird. Vielleicht sehen wir uns ja!

Mehr dazu findet Ihr unter Frankfurt liest ein Buch.


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